© OVB Michael Feuchtmeir als Herr Geiser. Foto Kraus
Es ist nicht leicht und nicht amüsant, über
mehr als zwei pausenlose Stunden diesem verdichteten Verfall einer
Person zuzusehen. Dem Bergrutsch eines Bewusstseins.
Dem so banalen, dramatischen wie wenig heroischen Kampf eines isolierten
Menschen gegen die Demenz, den Verlust seiner Persönlichkeit
zu folgen, den Michael Feuchtmeir in seiner Theater-Adaption von
Max Frischs erstmals 1979 herausgebrachten Erzählung "Der
Mensch erscheint im Holozän" nun auf die Bühne seiner
"Werkstatt" in Rimsting bringt.
Er selbst spielt Herrn Geiser, die solitäre Hauptfigur, führt
Regie, macht das Bühnenbild, produziert. Die Grundstruktur
seiner Version wird geschaffen durch die Einführung einer olympischen
Erzählerin, gegeben von der blutjungen, ganz in Schwarz gekleideten
Maria Wander. Auf einem Sofa rechts von der Bühne sitzend spricht
sie mit präziser Diktion und einer Stimme, die man eher einer
deutlich älteren Frau zuordnen würde vorwiegend jene Teile
des Texts, die über das "Aussen" berichten, den Abgang
von Muren infolge tagelangen Unwetters, die Geisers Dorf in den
Tessiner Bergen von der Umwelt abschnitten. Sie ergänzt damit
durch Aufsplitten die personale Erzählweise. Das ist im Originaltext
so nicht vorgesehen, schafft aber eine raffinierte Balance zur Hauptfigur,
die der Aufführung sehr gut tut: Mal ist es die Außenwelt,
über die von ihrer Seite berichtet wird, mal verzahnt sich
ihre Position mit der Innensicht Geisers. Feuchtmeirs Monologe werden
so zwar nicht zu Dialogen, bekommen jedoch einen stimmlichen Konterpart.
Michael Feuchtmeir macht sich für die Darstellung des 73-jährigen
Rentners über Gesten, Bewegungen, Mimik und Sprechweise auf
in jedem Moment überzeugende Weise zwanzig Jahre älter.
Mehr als einen Tisch, Bücher, Klebeband, eine Schere, eine
schwarze Wand, Knäckebrot, zwei Kassettenrecorder, eine Teekanne,
einen Spiegel eine Regenjacke, einen Regenschirm benötigt er
nicht als Requisite. Dass er das Unwetter über Tonaufnahmen
immer wieder per Kassette akustisch darstellt, ist ein sehr geschickter,
Atmosphäre schaffender Regieeinfall: Das Unwetter, der Stromausfall,
der Bergsturz sind Parabeln für die Katastrophe, die sich nach
und nach in Geisers Kopf ereignet. Es wird mal ganz unmerklich,
dann wieder schmerzlich schlaglichthaft klar, wie sein Bewusstsein
mehr und mehr verschwimmt, seine Gedankenwelt mehr und mehr ins
Rutschen gerät, in Phasen, Etappen, die hier auf einen Theaterabend
verdichtet sind. Schmerzlich, beunruhigend, Angst einflößend,
weil wohl jeder in winzigen Ansätzen das kennt, was hier passiert:
Was war denn noch? Was wollte ich gleich wieder in diesem Raum machen?
Weil Demenz ein großes, aber gern verdrängtes und ganz
sicher immer noch zu wenig erforschtes Thema unserer Gesellschaft
ist. Feuchtmeir gelingt es auf absolut faszinierende Weise, das
Wechselspiel zwischen Innenwelt und Außenwelt, den präzisen,
stark verdichteten, dabei reduzierten, unpathetischen Text zu vergegenwärtigen,
darzustellen. Als Bildkünstler, der er auch ist, versteht er
es bestens, mit den Bildern, den Blättern, den ausgeschnittenen
Buchseiten umzugehen, die Geiser als letztlich sinnlose Rettungsanker
an der schwarzen Wand anbringt. Diese Inszenierung knüpft so
wie inhaltlich an die letzten beiden Eigenproduktionen an, insbesondere
an den Theateralleingang "Er": Auch hierin ging es um
den Kampf eines Einzelnen um die eigene Persönlichkeit, der
"bildgestützt" inszeniert wurde.
Es ist nicht leicht und nicht amüsant, sich mit Themen wie
Demenz, Isolation, Alter, Tod zu beschäftigen. Wer davor jedoch
nicht Augen und Ohren verschließen, sich nicht aufs Verdrängen
verlegen möchte, bekommt mit diesem starken Stück Theater
zwar keine Lösungen, keine Auswege präsentiert, wohl aber
nachwirkende Bühnenbilder, dichten Stoff zum Nachdenken über
diese Aspekte des Menschseins.
Chiemgau Zeitung 7. Mai 2015
von Thomas Kraus
http://www.ovb-online.de/rosenheim/kultur/katastrophe-kopf-4977823.html
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