ER - ein Bericht

Michael Feuchtmeirs kompletter Theateralleingang in Rimsting





Wenn das Innerste in der Kreide steht  

Chiemgau Zeitung 04. Juli 2012
Von Thomas Kraus

 

Die Tafel ist weit mehr als ein Bühnenbild in Michael Feuchtmeirs neuer Theaterperformance "Er", die er, also hier Feuchtmeir, nun nach halbjähriger Vorbereitungszeit in seiner "Werkstatt" in Rimsting zur umjubelten Uraufführung brachte. Auf besagter Tafel lässt er metamorphisierende Bilder entstehen, sich stets wandelnde Zeichnungen aus nichts als Kreide und Wasser, die zusammen mit seinem Sprechen, seinem Agieren vor der Tafel ein faszinierendes Ganzes ergeben, ein grafisch-theatralisches Schauspiel.

Die äußere Handlung ist schnell erzählt, insgesamt nur angedeutet: "Er" wird im einleitenden Sprechtext als ein Mann ohne Eigenschaften, als unbekannter Bekannter präsentiert, der sich, durch einen Unfall oder Kollaps zu Fall gebracht, offenbar in einem Krankenzimmer befindet. Alles andere ist Innenschau, Innenleben, Introspektive, die durch Spiel und Zeichnung sichtbar, wahrnehmbar wird, und dabei nach und nach große Lebensthemen behandelt: Es geht um den Einzelnen in der Gesellschaft, Erfolg und Scheitern, Erwartungen und Erwartungsdruck, um Macht und Ohnmacht, das Alleinsein unter Menschen, Freiheit durch Ordnung, das Leben als Feind, um Angst, um Trost, um Zärtlichkeit, die Brüchigkeit von Vertrauen, um Wirklichkeit und Unwirklichkeit der eigenen Wahrnehmung.

"Er", als Michael Feuchtmeir hat dabei alles allein gemacht, das Stück geschrieben, die Bilder erfunden, die fast wie in einem Film ablaufen und dabei gerade durch die archaische Schlichtheit der Mittel ein bildnerisches Eigenleben bekommen: Feuchtmeir arbeitet ungemein bewusst und aus einem tiefen Verständnis für das zeichnerische Bildentstehen mit drei Helligkeitsebenen. Kreideschleier ergeben Fläche und Mittelton, aus dem sich die Konturzeichnungen mit Kreide hell, mit Wasser dunkel abheben. Das sukzessive Trocknen des Wassers entwickelt geplant-ungeplant die Bilder über das geplante Fortzeichnen hinaus weiter.

Ein Beispiel für das Funktionieren der Verzahnung von Zeichnen, Sprechen, Mimik und Gestik: Eine Frau erscheint, offenbar im Krankenzimmer. Dies wird aus zwei Perspektiven verbal erzählt, aus derjenigen eines Erzählers, aus derjenigen des "Er". Feuchtmeir zeichnet eine Frau, "Er" vermeint seine Mutter zu erkennen, die Frauengestalt kommt ihm vor wie ein hysterisch lachendes Pferd. Die Zeichnung mutiert. Das gezeichnete Pferd zitiert hier Picasso, "Guernica". Das Pferd wird zur Metapher für Fantasien von Ohnmacht und Macht, Finger werden zu Fäusten. Alles ist im Wandel. Bis das ganze Innenleben in Kreide an der Tafel abläuft wie in den Worten, den Gesten. Sichtbar, deutlich, und doch immer wieder verschleiert. Wer "er" ist, bleibt dabei dahingestellt, er ist jedermann und keiner, wohl aber ein Mensch unserer Zeit, unserer Kultur, unserer Gesellschaft, handernd mit sich und seiner Umwelt, voller Zweifel.

Sicher ist "Er" Michael Feuchtmeir, aber nicht nur. Der knüpft zeichnerisch wie gedanklich an verschiedene Positionen der Bildkunst, Literatur und Philosophie vornehmlich der vergangenen hundert Jahre an, nicht nur an Picasso, Arnulf Rainer, Robert Musil, Camus und Sartre. Sein Theateralleingang ist keine sommerlich-leichte Kost. Es ist auch kaum vorstellbar, dass dieses Stück so schnell an andere Bühnen kommt, verlangt die Performance doch einen so exzellenten Zeichner und Schauspieler, wie das bei Feuchtmeir in Personalunion der Fall ist. Sehens- und hörenswert ist es auf jeden Fall, was "Er" da macht und in engster Verzahnung von Wort und Bild zum Ausdruck bringt.

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